Texte
Gnade und Mut zur Endlichkeit
Professor Fulbert Steffensky (92) ist von Anbeginn Schirmherr unseres Emmaus Hospies. Er lebt in der Schweiz und kommt nur selten nach Hamburg. Im Kontakt zu Clarita Loeck hat er an sie einen Text versandt, der sich mit den Gedanken über das Alter auseinandersetzt.
»Ein jegliches hat seine Zeit.« heisst es im Kohelet. Das gilt auch für die Lehren, die Anschauungen und Bilder der religiösen Traditionen. Die moralischen Appelle werden vor allem jüngere Menschen in der Tradition finden und schätzen. Was Buße und Vergebung ist, verstehen Menschen erst, wenn sie ihre Niederlagen und Verrat erfahren haben. Den Zweifel des Kohelet kennt der Mensch erst, wenn er gelernt hat, sich seines Verstandes zu bedienen und die Welt mit offenen Augen zu sehen. Die Wahrheiten sind da, aber sie treten erst auf die Bühne und fangen an zu sprechen, wenn der Mensch sie aufruft mit seinem Lebensschicksal. Ich überlege, welche Überlieferungen unserer Tradition an mich als alten Menschen appellieren; welche sichtbar und hörbar werden, weil ich sie im Alter besonders brauche. Was tritt aus dem Schatten, was ich bisher nur schattenhaft wahrgenommen habe; was ich heute anders und intensiver schätze, als ich es früher geschätzt habe? Ich kann es mit einem Wort sagen und versuche dann das Wort aufzuschlüsseln: Ich lerne neu und intensiver, was Gnade bedeutet. Gnade war für mich immer eines der schönsten Wörter unserer Tradition. Aber im Alter lerne ich, es neu zu schmecken.
Gnade: Ich lerne neu, dass ich mich nicht durch mich selbst rechtfertigen muss, weil ich mich immer weniger durch mich selbst rechtfertigen kann. Ich lerne neu, dass ich mich nicht selbst bezeugen kann; nicht durch meine Stärke, sie schwindet dahin; nicht durch meine Arbeit, es ist nur noch wenig möglich; nicht durch meine Erfolge, sie sind gering geworden. Ich schmecke neu den Satz aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes: Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Ich kann Fragment sein, ich kann ein Wrack sein und bin befreit davon, Zeuge meiner selbst zu sein. Im Alter wissen wir unerbittlich genau: Wir sind immer weniger die Souveräne unseres eigenen Lebens. Der Mensch im höheren Alter hat seine Stärke verloren. Er kann sich nicht mehr in der eigenen Hand bergen, er muss sich aus der Hand geben. Er ist angewiesen und bedürftig geworden. Er braucht für die äußeren Verrichtungen und für seine innere Konstitution Menschen. Die Bedürftigkeit ist nicht nur ein Mangel, sie ist der Grundzug aller Humanität. Je geistiger ein Wesen ist, umso mehr stimmt es der eigenen Bedürftigkeit zu; umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke. Altern heißt verarmen: arm werden an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein ausrangiertes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich der Gnade Gottes und der Gnade der Menschen anvertrauen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt die letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen; aber vielleicht ein Anfang davon uns allen.
Im Alter ist mir zugemutet, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren. Natürlich weiss man auch vorher, dass man sterben muss, aber man weiss es nur abstrakt, wenn man noch die lächerliche Unendlichkeit von 30 oder 40 Jahren vor sich hat. Man lernt im Alter leichter und bitterer, was Frist ist. Zustimmung zur eigenen Sterblichkeit heisst nicht nur, dem nahen Tod zuzustimmen. Man stirbt lange vor dem Sterben. Man fängt an zu sterben, wenn die eigenen Welten untergehen. Sie gehen unter, wenn man Freunde und geliebte Menschen sterben sieht. Man fängt an zu sterben, wenn die alten symbolischen und moralischen Welten, in denen wir geborgen waren, untergehen und neue aufziehen, die nicht mehr meine sind. Ich nehme als einfaches Beispiel den Gottesdienst: Die Sprache, die uns lange begleitet und getröstet hat, hat sich verändert oder es gibt sie nicht mehr. Mein Paul Gerhardt wird nur noch selten gesungen. Man kann einwenden: Es sind doch dieselben Gedanken in den alten und neuen Liedern. Aber den Menschen stärken und erbauen nicht nur Gedanken, sondern auch die Formen und die kulturellen Landschaften, in denen diese Gedanken überliefert sind. Wenn ich ein Leben lang meinen Trost aus einem Paul-Gerhardt-Lied gelesen habe und ihn wie in ein altes Formular darin eingetragen haben, dann ist mir nicht nur der Gedanke der Lieder heilig, sondern auch ihre Form und Melodie. Zur Jugendlichkeit eines Menschen gehört, dass er die Formen wechseln und mit ihnen spielen kann. Aber sehr alte Menschen sind nicht mehr jugendlich. Das Alter ist die Zeit der Abschiede. »Abschied ist ein bisschen wie Sterben.« sagt der Kleine Prinz von St. Exupéry. Das Sterben ist die Summe von vielen Abschieden. Man kann die neu aufziehenden Welten noch billigen, aber man ist nur noch begrenzt zuhause. Der eigenen Sterblichkeit zustimmen heisst, die neuen Welten, die nicht mehr die unseren sind, zu billigen und zu segnen. Es heisst abdanken können. Abdanken, ich liebe dieses Wort, heisst, ohne Groll den anderen ihre Welt gönnen und die eigene alte Welt nicht zum Diktat der neuen zu machen; der neuen Welt nicht die alte Moral, nicht die alten Verkehrsformen vorzuschreiben. In Würde altern ist eine Form des Gewaltverzichts. Es gelingt uns nicht mehr viel im Alter, aber der jüngeren Welt in Schmerz und in Heiterkeit ihre Andersheit zu gönnen, das könnte noch gelingen – teilweise gelingen, denn ganz gelingt uns nichts.
Der Verzicht auf die eigene Ganzheit, der Mut zur Endlichkeit ist eine Form des Glaubens an die Gnade. Dieser Glaube lehrt mich, meine fragmentarische Altersexistenz zu ertragen. Einer der Schmerzen, die man im Alter ertragen lernen muss, ist die Erfahrung, dass man sich nicht mehr sehr viel ändern kann. Man lernt seine bittere Endlichkeit. Man wird unflexibler. Vielleicht kann man noch sehen, dass man unflexibler wird. Damit könnte man vermeiden, dass man die eigenen Probleme als die Probleme der Nachwelt definiert. Man kann lernen, geschickt mit seinen Fehlern umzugehen. Aber verlernen kann man sie kaum noch. Man kann vielleicht noch lernen, Humor mit sich selber zu haben. Aber das Leben muss es schon gut mit einem gemeint haben, dass dies gelingt. Wer ein Leben lang zu kurz gekommen ist und wen das Leben gebeutelt hat, dem fallen die Gelassenheit im Alter und der Humor mit sich selber schwer. Vielleicht am schwerster zu ertragen ist, dass auch die moralischen Kräfte wie alle anderen Kräfte abnehmen. Wir Alten werden manchmal geiziger als wir je waren, nachtragender, aggressiver, neidischer, als wir waren. Schwer zu ertragen ist der Altersegoismus, meistens eine Folge der Einsamkeit. Die Gefahr ist, sich selbst dauernd Mittelpunkt und Thema zu sein. Als alter Mensch ist man immer weniger Meister seiner selbst, auch nicht seiner Moral. Mut im Alter ist Mut zur Endlichkeit. Ich habe das Gespräch mit einem sterbenden Freund im Ohr. Er zählte auf, was ihm im Leben gelungen ist; dass er Bücher geschrieben, Vorträge gehalten hat und Menschen begeistern konnte. Dann ein Satz der Trauer: Jetzt bin ich nichts mehr. Danach, erleichtert und listig-vergnügt: Und ich muss auch nichts mehr sein. Der Sterbende hing nicht mehr an den Namen, die er sich im Leben gemacht hatte. Er ist von Gott genannt, und das genügt ihm. Wenn das nicht Hingabe und Bergung in die Gnade Gottes ist!
Zustimmung zur Gnade Gottes heisst auch, darauf zu verzichten genau zu wissen, wer man eigentlich war und ist nach einem langen Leben. Ich weiss nicht, welche meiner Lebensschritte ich wirklich ganz verstehe. Es gibt Grundsituationen der eigenen Existenz, in die man nur eine beschränkte Einsicht hat und an denen uns das Urteil über uns selbst verweigert ist. Warum bin ich diese oder jene Schritte in meinem Leben gegangen, warum habe ich diese oder jene Entscheidung getroffen? Einige Gründe kann ich nennen. Sind es die eigentlichen Gründe? Je älter man wird, desto mehr ist man sich selbst ein Rätsel und muss man mit der eigenen Rätselhaftigkeit leben. »Wir sind nicht die Bildhauer unserer Gesichtszüge und nicht Regisseure unseres Ernstes, unseres Lachens und Weinens.« (Pascal Mercier) Richtiges und Falsches, Kenntlichkeit und Unkenntlichkeit sind unlösbar miteinander verflochten. Mir bleibt nichts anderes übrig als der Humor meinen eigenen Lebensentscheidungen gegenüber. Mein theologisches Resümee: Man muss sich nicht durchschauen, weil Gott uns kennt. Darum ist Psalm 139 einer meiner liebsten Texte: »Gott, du erforschst mich und kennst mich.« Das ist doch wohl genug.
Zum Glauben an die Gnade im hohen Alter heisst auch darauf zu verzichten, sein eigener Richter zu sein. Oft quält alte Menschen die Unfähigkeit, sich selbst zu vergeben. Eine alte Lehrerin, fromm und dem Tode nahe, kam gegen das Gefühl ihrer Lebensschuld nicht mehr an. Sie war eine gute Lehrerin, hingegeben an ihre Arbeit und an Menschen. Trotzdem war sie gequält von Gefühlen, dem Leben alles schuldig geblieben zu sein. »Vor meinem inneren Auge sehe ich dauernd, was ich im Leben falsch gemacht habe.« sagte sie. Sie konnte sich selbst nicht freisprechen. Ich kenne diesen Schmerz des Alters, nicht mehr nachholen zu können, was man versäumt hat, und nicht mehr gutmachen zu können, was man verraten hat. Aber bei ihr war es mehr, sie klebte an ihrer Schuld, mit ihren Worten: »Ich sehe dauernd, was ich im Leben falsch gemacht habe.« Die Haupterinnerung an sich selbst war ihr Versagen. Sie hielt es nicht aus zu sein, die sie war. Wenn ich etwas von Gnade verstehe, dann heißt das: Wir sind am Ende, die wir sind – mit allen Wunden, mit aller Schuld, mit allem Gelingen. Gnade heißt: Ich muss kein Urteil über mich sprechen, weder ein gutes noch ein verdammendes. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich kann zustimmen, dass ich bin, der ich geworden bin, auch mit meiner Schuld. In Kafkas Prozess-Roman ist »K« an seinem 30. Geburtstag vom Gericht befohlen, alle wesentlichen Momente seines Lebens aufzuzählen und zu bewerten; sich also zu rechtfertigen. »Und je mehr er jetzt zu seiner Rechtfertigung tun will, desto ungerechtfertigter kommt er sich vor. Das führt zum Entzug der Lebenserlaubnis, das führt zu einer von ihm selbst veranstalteten Selbst-Hinrichtung.« (So Martin Walser über die Figur aus Kafkas Prozess) Der Satz »Vor meinem inneren Auge sehe ich dauernd, was ich falsch gemacht habe.« ist eine Art Selbst-Hinrichtung. Und wer gibt ihr die Erlaubnis dazu? Jedenfalls nicht der, der uns richtet. Wenn ich eins von diesem Christentum verstanden habe, dann ist es der Gedanke: Wir müssen uns nicht bezeugen, nicht durch unsere eigene Unversehrtheit, Ganzheit und Unschuld. Wir können Fragment sein, Fragment auch in unseren Tugenden. Darum wieder mein Lieblingssatz aus dem Römerbrief: »Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.« Sich selbst bezeugen durch unsere Schuldlosigkeit oder durch das Gelingen des, hieße nach Paulus »im Fleisch« leben. Wir müssen nicht Zeugen unserer selbst sein, auch nicht Zeugen gegen uns selbst. Kann man mit diesem wunderbaren Satz »der Geist bezeugt uns, nicht wir uns selbst« nicht alle Versuche der Selbstrechtfertigung und Selbstverdammung ausräuchern? Das ist die Kunst, sich selbst zu vergessen. Es vertreibt nicht den Schmerz über das Stückwerk Leben. Aber könnte es nicht eine Grund-Heiterkeit geben, die dem Schmerz seine bannende Kraft nimmt? Die verwundete Heiterkeit, die dieser Satz aus dem Römerbrief lehrt: Der Geist gibt Zeugnis, nicht wir selbst. Wir sind, die wir sind, am Ende unseres Lebens, mit Narben bedeckt und angesehen vom Blick der Güte. Sich in der Selbst-Hinrichtung einzurichten, ist eine Art negativer Eitelkeit, in der man die eigene Schuld für grösser und gewichtiger hält als Gott selbst. Ich weiß, dass der Gedanke der Gnade nur schwer ankommt gegen die eingefräßten Selbstauffassungen. Aber er kann sie relativieren, er kann den Menschen heiter machen im Schmerz. Es kann ja sein, dass zu unserer Humanität gehört, sich selbst zu beweinen. Aber noch mehr und noch größer ist, sich selbst zu belächeln. Und Gott lächelt mit.
Professor Fulbert Steffensky